Russische Kanzlei u. Kartothek

Wie und wann genau die sogenannte Russische Kanzlei im Gefangenenlager ihre Arbeit aufnahm ist nicht bekannt. Die russischen Kriegsgefangenen stellten im Lager in Bockhorst und in seinen Aussenstellen die zahlenmässig grösste Gruppe. Daher stammten auch die meisten der für Arbeitseinsätze in ganz Norddeutschland verteilten Soldaten aus Russland. In der von der Russischen Kanzlei  geführten Kartothek wurden die Personalien eines jeden Soldaten mit Ort der Gefangennahme, des Zugangs und Abgangs, der Heimatadresse und der jeweiligen Arbeitsstelle festgehalten. Hier wurden auch die Gefangenenausweiskarten ausgestellt. Der Abschlussbericht der belgischen Generalversammlung ging bei Kriegsende von 38.722 Russen aus, die im Güstrower Lager lebten oder es während ihrer Gefangenschaft durchlaufen hatten und somit von dort verwaltet wurden. Friedrich Wilhelm Tönse spricht in seinen Erinnerungen von 400.000 Soldaten deren Daten dort geführt und bearbeitet wurden. Diese Zahl deutet möglicherweise darauf hin, dass die Russische Kanzlei in Güstrow zumindest zeitweise die Unterlagen von russischen Gefangenen aus einem viel grösseren Einzugsbereich als nur des Güstrower Lagers verwaltete. Die Schreibarbeiten wurden von Gefangenen erledigt und von deutschen Zivilbeschäftigten beaufsichtigt. Bei letzteren handelte es sich überwiegend um Deutsche, die vor dem Krieg in Russland gelebt und gearbeitet hatten und die bei Beginn des Krieges wegen ihrer Nationalität aus Russland ausgewiesen wurden. Daher verfügten sie über die nötigen Sprachkenntnisse. Die Russische Kanzlei erfüllte ihre Aufgaben bis weit nach Kriegsende. Von den ursprünglich im Dezember 1918 in Deutschland festgehaltenen 1,2 Millionen russischen Kriegsgefangenen waren bei der Volkzählung im Oktober 1919 immer noch 270.000 im Land. Das resultierte zum einen aus der schwierigen Rückführung der Menschen in das vom Bürgerkrieg zerrüttete Russland und zum zweiten aus dem immer noch vorhandenen Bedarf der deutschen Landwirtschaft an billigen Arbeitskräften. Im Dezember 1920 waren im Güstrower Lager noch 14.161 ehemalige russische Kriegsgefangene registriert. Die Verwaltung dieser Menschen verschaffte den Mitarbeitern der Russischen Kanzlei bis zur endgültigen Auflösung des Kriegsgefangenenlagers zum 31. Mai 1921 einen sicheren Arbeitsplatz.

Volkszählungsliste 1919, Stempel unter einer Liste mit russischen Gefangenen, Signatur F.W.Tönse

Unter  diesem link findet sich die Lebensgeschichte eines russischen Kriegsgefangenen in Mecklenburg. Der Beitrag enthält u.a. ein Foto einer Gefangenen-Ausweiskarte der russischen Kanzlei.



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